Schendelplatz, 23. November 2020
Im olivgrünen Parka stürzt die junge Frau in Richtung Torstraße.
Und doch kommt sie kaum voran.
Dieser Tag biegt sich. Seine warmen Koloraturen wussten schon um Zwölf vom Aufkommen des Sturmes um halb Drei. Von der abnehmenden Sättigung aller Farben, die damit auch einsetzen würde.
Ich habe den „Stechlin“ von Theodor Fontane heute zu Ende gelesen.
Ein Gedanke: obwohl die „neue Zeit“, die Industrialisierung, das wachsende Selbstbewusstsein von Bourgeoisie, Bäuerlichkeit und Arbeiterschicht in der Zeit des Textes als Größen heranwachsen, so setzt sich eine Konstante doch fort bis heute. Vom „Stehenden“ mag, wie Karl Marx es so präzise formulierte, viel „verdampft“ sein durch den zu Zeiten des Junkers von Stechlin expandierenden Kapitalismus. Dessen Wucht ist überraschenderweise dennoch nicht stark genug gewesen für das von Marx ebenso miterwähnte „Ständische“.
Ich formuliere das vorsichtig. Es bedarf doch näheren Hinschauens: das „Ständische“, es ist nicht „verdampft“. Die Herkunft, die Stände strukturieren bis heute die Gesellschaften. Die Stände können Halt geben für die Subjekte, und ebenso behindern sie die Freiheit zum sozialen Aufstieg. Dass selbst das Kapital diese Tradition nicht zerstören konnte, mahnt zur Vorsicht bei der Voraussage gesellschaftlichen Wandels durch die Digitalisierung.
Der Wind treibt einen Rennradler in „Rapha“-Klamotten durch die Straße. Vom Spielplatz her quietscht die Reifenschaukel. Ihr Ton verklingt zu langsam, als würde er in Zeitlupe über den
Schendelplatz schallen.
Die Größenverhältnisse dieses Tages, sie stimmen nicht.
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