Sven

Als heute Morgen die Amsel sang, machte ich mir einen Kaffee und dachte an Sven.

Sven Lager, so war sein Name, und anfangs, in den ersten Wochen, als ich im Refugio ein- und ausging, dem von ihm und seiner Frau, der Schriftstellerin Elke Naters gegründeten Sharehaus, gab es einen Raum mit der Aufschrift „Lager“. Zunächst hielt ich ihn für die Wohnung der Lagers. Neben Elke und Sven gehören die beiden Kinder Luzie und Anton zur Familie. Bis ich dann den Raum auf der Suche nach etwas aufschloß und sah, dass es nur ein Materiallager war.

Sven war die leibhaftig gewordene Fülle. Was er ganz deutlich nicht war, das war ein Ablageort, in dem etwas gespeichert gewesen wäre. Was er zu sagen, zu geben, zu verschenken hatte, das nahm er aus dem Nirgendwo, oder aus dem Himmel. Umstandlsos. Eine „himmlische Gemeinschaft“ sollte das Sharehaus sein, für Menschen, die gerade neu in Berlin angekommen waren, aus der Türkei, aus Syrien, aus Somalia, oder eben aus Niedersachsen wie ich vor sechs Jahren. „Himmlische Gemeinschaft“, klingt das nicht furchtbar vermessen? Wir tun es uns doch schon schwer, eine angemessen debattierende weltliche Gesellschaft zu bilden. Vielleicht sollten wir die „himmlische Gemeinschaft“ doch lieber den Engeln überlassen.

Gestern war ich auf eine französische Initiative namens „PEROU“ gestoßen. Sie ist in vielem vergleichbar mit den Ideen des Sharehauses, wie Sven es im Sinn hatte. Und doch fiel mir sofort etwas auf: dem Manifest, das dann immerhin auf etwas so Großes wie das Gastgeben hinauslaufen wird, ist ein Zitat von Italo Calvino vorgestellt. Sinngemäß: der Mensch vermeide doch bitte, dem anderen Menschen die Hölle zu bereiten.

Wandelne Fuelle
Es blüht, auch im Dachgarten des von Sven Lager gegründeten Refugio

So denkt die Negation, doch so dachte Sven genau nicht. Er dachte lieber an den Himmel auf Erden. Und es ging auf. Das Refugio ist in seinem Kern, der Wohngemeinschaft, heute tatsächlich zusammengewachsen. Es gibt nicht die Trennung zwischen bezahlten Helfern und jenen, die sich helfen lassen sollen; im Refugio lernt jeder voneinander.

Gastfreundschaft, das konnte ich etwa lernen im Refugio. Großzügigkeit, das war das, was ich von Sven lernen konnte. Es ist gar nicht so einfach zu verstehen, wie jemand ständig neue Ideen haben konnte. Und dann, wenn man mit ihm Oliven aß im „Hackbarth’s“ auf der Augustraße, so da war, so zuhörte wie Sven. Er bestärkte mich darin, meinen Ideen zu trauen; wenn ich dann wieder alleine war merkte ich, was für eine Zumutung das sein kann. Oder wie Sven es einmal über die Anfangszeiten des Sharehauses sagte, als die Leute neugierig fragten, was man denn da so mache, in einem Sharehaus. „Ja, was wollt ihr denn machen?“

Sven meinte das so, wie er es sagte, er wollte die Leute zu dem bringen, was sie gerne tun. Und im Refugio habe ich gelernt, dass es möglich ist. „Er war immer so glücklich“, antwortet meine Tochter auf die Frage, woran sie denkt, wenn sie an Sven denkt. Wer ihn kennenlernen durfte, weiß direkt, was sie meint. Er strahlte eine Größe aus, die sich mit einem „okay“ oder einem „ich bin ganz zufrieden“ einfach nicht begnügen konnte. Mehr noch: diese Fülle übertrug er auf andere.

Jetzt ist Sven gestorben, an Krebs, und für ihn selbst war das nicht vorgesehen, für mich auch nicht. Dass er nicht mehr da sein könnte. Es ist ein Schock, auch fünf Tage später noch.

Inzwischen sind einige Minuten vergangen. Die Stare sind erwacht und das eine laute Motorrad rast die Torstraße runter. Die Amsel hört gleich auf. Morgen singt sie wieder. Und wir sollten in seinem Sinne weitermachen: uns verschenken an das Leben, uns hergeben für die Anderen.

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